Ein Reisebericht über die Werkstatt von Calcutta Rescue
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Auszüge aus meinem Reisetagebuch vom 22. Februar 2017:
Das erste Zusammenarbeiten mit Calcutta Rescue.

Es war mein erster Tag bei Calcutta Rescue, an dem wir gemeinsam für Green Size Probestücke nähen wollten. Ich brachte Baumwollstoffe mit, die ich am Tag zuvor auf dem New Market gekauft hatte. Schnittmuster, die ich vor Beginn der Reise noch schnell fertig gestellt hatte, brachte ich aus Deutschland mit, in der leisen Hoffnung, das ich sie brauchen könnte. Ganz ehrlich, es war eher eine Hoffnung, als eine Überzeugung. Zumindest für FerryBengal wollte ich sie dabei haben. Aber bis jetzt wusste ich nicht mal, ob ich die Schnitte dafür benutzen könnte.

In der Werkstatt begrüßte mich Sambhu, der Projektleiter. Er ist das Herz und die Seele der Werkstatt. In einem winzigen Büro, das mit einer Bretterwand vom Flur abgetrennt ist, hatte er einen alten Computer. Übrigens eine Spende aus Deutschland, wie er mir stolz erzählte. Auf der Tastatur fehlte ein Buchstabe.
Es gibt hier Strom, Internet und fließendes Wasser. Die Werkstatt besteht aus zwei Räumen. In dem kleineren werden die Papiertüten und andere Dinge aus Papier und Holz gefertigt. In dem größeren Raum stehen drei Nähmaschinen, ein Tisch und mehrere Regale, in denen die Materialien und fertigen Produkte sauber in festen Metallkästen aufbewahrt werden. Auch die Kästen sind eine Spende. So werden die Sachen vor Feuchtigkeit und Schmutz geschützt.

© Green Size, Lübeck

Die Frauen und Männer saßen beim Arbeiten auf dem Boden. Auch gebügelt wurde hier auf dem Boden. Das wirkte auf mich doch eher befremdlich. Meine Schneidermeisterin sagte immer, gut gebügelt ist halb genäht. Wie das wohl auf einem Betonfußboden geht?

© Green Size, Lübeck

Die Näherin, die damals mit mir 2 Kleidungsstücke aus meinen Schnittmustern nähen sollte, sprach kaum Englisch. Und ich kein Bengali. Sambhu wollte übersetzen. Leider hatte er wenig Zeit für uns, daher halfen wir uns mit Händen und Füssen.
Scheinbar sah es ziemlich lustig aus. Die anderen Frauen und Männer sahen oft zu uns rüber und kicherten. Körpersprache in Deutschland ist eben anders als in Indien. Aber dank YouTube, konnte ich richtig gut mit dem Kopf wackeln.
Wir begannen mit einer einfachen Bluse. Wenn Husnabanu, die Näherin, etwas scheiden sollte, zeigte ich auf die Schere. Wenn sie etwas messen sollte, zeige ich auf das Lineal und malte mit den Fingern die Zahlen auf den Stoff. Husnabanu nickt und machte ungefähr das, was ich wollte. Sie konnte nicht lesen und nicht schreiben. Sie ist nie zur Schule gegangen.

Es klappte erstaunlich gut, bis sie mittags auf einmal aufstand und ein einziges Wort zu mir sagte. ‘Lunchtime’, also englisch für Mittagspause. Damit verließ sie den Raum. Die Mitarbeiter setzten sich und packten ihr Essen aus. Ich hatte mir in weiser Voraussicht auch etwas mitgebracht. Vor ein paar Tagen hatte ich einen Supermarkt gefunden, der abgepackte Croissants verkauft. Ich liebe indisches Essen, aber es liebt mich nicht. Von den scharfen Gewürzen bekomme ich schnell Bauchschmerzen und noch andere Probleme…

Nach dem Essen wurde die Bluse schnell fertig. Sie sah gut aus und passte, so wie ich es mir vorgestellt hatte. Als nächstes wagten wir uns an einen Rock. Dieser war schon um einiges komplizierter. Er hatte mehrere Bahnen und war eher asymmetrisch. Ihre Laune mir gegenüber ließ etwas nach. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass der Rock ein fest eingenähtes Futter hat.
In Indien kann man das Futter fast immer herausnehmen und zu einem anderen Rock wieder anziehen. (Inzwischen mache ich es genauso.) Da sie mich nicht verstand, sollte Sambhu übersetzen. Ich zeigte dabei auf meinen eigenen langen Rock und hob dabei den Stoff bis zur Wade an, um auf das darunter liegende Futter zu zeigen. Sambhu hielt sich sofort die Hände vor das Gesicht und drehte sich weg. Offensichtlich hatte ich zu viel Bein gezeigt. Die anderen aus der Gruppe fangen schallend an zu lachen. Ich war puterrot angelaufen. Zumindest hatten jetzt wirklich alle gute Laune, und Shambhu wusste, welches Wort ich übersetzt haben wollte. Er erklärte Husnabanu, dass Europäer Rock und Futter zusammennähen und deshalb für jeden Rock ein eigenes Futter haben. Es würde mich nicht wundern, wenn er ihr auch noch erklärt hätte, dass Europäer verrückt sind. Das würde ihr fürsorgliches Lächeln erklären, mit dem sie mich den Rest des Nachmittags ansah.

© Green Size, Lübeck

Es ist bereits nach fünf Uhr, als auch der Rock geschafft ist. Sie wollte ihn unbedingt noch fertig nähen, obwohl ich ihr ansah, dass sie Schmerzen hatte. Ich hatte ihr mehrmals durch Sambhu gesagt, dass wir morgen weitermachen können. Ihre Antwort war: ‘Deutsche immer pünktlich. Deshalb heute fertig.’
Wir hatten den Rock in aller Eile fertig genäht und nicht mehr gebügelt.
Es ging ja auch mehr darum zu sehen, ob ich in Zukunft meine Kollektion für Green Size hier nähen lassen kann.
Die Antwort war eindeutig. Ja, machen wir!
Ganz sicher nicht, weil es wirtschaftlich klug ist, sondern aus Liebe zu diesen wunderbaren Leuten.

Es gibt Entscheidungen, die man besser mit dem Herzen trifft.

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