Eigentlich wäre es mir lieber, diesen Bericht nicht zu schreiben. Am liebsten würde ich die indische Kultur und Gesellschaft im schönsten Licht für euch beschreiben und erzählen, wie toll es dort ist. Aber damit würde ich viel verschweigen. Es ist wichtig, dass ich meine Beobachtungen ehrlich mit euch teile und den Frauen in meinem geliebten Indien eine Stimme gebe.
Dass in Indien eine ganz andere Kultur gelebt wird, als hier in Deutschland, ist wohl jedem klar. Diese fremde Lebensart macht einen großen Reiz aus und verstärkt meine Reise- und Abenteuerlust. Jedoch gibt es auch kulturelle Bräuche, die einfach nur schrecklich, geradezu mittelalterlich, patriarchisch sind. Der Brauch, auf den ich hier anspiele, ist zum Glück sehr selten geworden und mir etwas Hoffnung, dass er vielleicht bald Geschichte sein wird. Es geht darum, was mit einer Frau passiert, nachdem sie ihren Ehemann verloren hat. Es geht darum, dass das Leben einer Frau vorbei ist, sobald ihr Mann gestorben ist. Es geht um Witwenverbrennungen.
Nicht etwa im übertragenen Sinne, sondern wörtlich. Es ist eine uralte Sitte, die Witwe des Verstorbenen auf dem selben Scheiterhaufen zu verbrennen, auf dem der Leichnam ihres Mannes kremiert werden soll. Sie wird bei lebendigem Leib verbrannt. Seite an Seite mit ihrem Mann. Die Götter fordern ihren Tod. Im alten Glauben war man der Überzeugung, dass eine Witwe Unglück bringt und auch heute sind viele Menschen sehr skeptisch, wenn es um die Gleichsetzung von Witwen und verheirateten Frauen geht.
Die Stellung der Frau in der indischen Kultur ist auch im 21. Jahrhundert weit von einer Gleichstellung mit dem Mann entfernt. Obwohl es über viele Jahre eine weibliche Premierministerin gegeben hat und diese auch einiges für die Frauen tun konnte, sind die meisten Frauen Indiens noch nicht annähernd so frei wie in westlichen Ländern. Der Mann, der Vater oder der Bruder bestimmen über das Leben einer indischen Frau. Ich möchte nicht unter den Tisch fallen lassen, dass auch das sich verändert und die Frauen immer öfter das Heft in die Hand nehmen und selbstbestimmt leben.
Es wird seine Zeit dauern, bis der Wandel die breite Masse erreicht. In Deutschland gibt es erst seit 22 Jahren ein Gesetz, das die Vergewaltigung in der Ehe zu einer Straftat erklärt. Soviel fortschrittlicher sind wir in einigen Punkten auch nicht. Dennoch ist es in Indien im Grunde immer noch unmöglich, sich als Witwe einer neuen Beziehung zuzuwenden, gar wieder zu heiraten ist absolut tabu. (Auch das kommt mir von den Katholiken irgendwie bekannt vor.)
Eine Witwe ist im modernen Indien auf die Gnade ihrer Kinder angewiesen, die sie im Idealfall bei sich aufnehmen und versorgen. Wenn sie keine Kinder hat, wird es schwer für sie. Kaum eine Witwe bekommt Arbeit, und wenn, sind es niedere Tätigkeiten, wie die Müllbeseitigung auf den Straßen. Die meisten kinderlosen Witwen, oder die Witwen, die von ihren Kindern nicht aufgenommen werden, verlegen sich auf das Betteln.
Witwen bringen das Unglück ins Haus. Diese tiefe Überzeugung in vielen Köpfen führt dazu, dass es vorkommt, dass selbst die eigenen Kinder nicht immer dazu bereit sind ihre Mutter bei sich aufzunehmen.
Sie erbetteln weniger als die anderen auf der Straße, bekommen weniger Zuwendung. Man will nichts mit ihnen zu tun haben. Alte Frauen, die hilflos auf dem Gehsteig liegen und um jede Rupie kämpfen müssen. Im gewissen Sinne ist das Leben einer Witwe mit dem Tod ihres Mannes sogar dann vorbei, auch wenn sie nicht verbrannt wurde.
Es wird wirklich Zeit mit diesem Unsinn und alten Vorstellungen aufzuhören und diesen Frauen den Respekt entgegen zu bringen, den sie verdient haben.
In dem Projekt Calcutta Rescue, mit dem ich zusammenarbeite, bekommen auch Witwen eine Arbeit und Versorgung. Hier glaubt man nicht, das Witwen anders zu behandeln sind, als andere Menschen. Hier kümmert man sich um die Unglücklichen.
Eine der Näherinnen, die auf so liebenswerte und geschickte Art Green Size-Kleider näht ist Witwe. Sie ist klug, wenn auch ungebildet, und lernt schnell die neuen Nähtechniken an der Interlockmaschine. Kurz vor Feierabend geht sie vor die Tür der Werkstatt und füttert die Straßenhunde. Ganz normal, ganz liebevoll.
Viele NGO in Indien kümmern sich um Frauen und schauen auch, dass die Witwen ein würdiges Leben führen können. In den Städten des riesigen Landes wird diese alte Tradition auch spürbar weniger. Jedoch ist sie noch nicht verschwunden. Und solange Frauen und Männer in der Gesellschaft nicht gleichberechtigt sind, wird dies auch noch lange so bleiben. Der Fortschritt kommt langsam, aber dafür unaufhaltsam.
Auf dem Land sieht das noch dramatisch schlechter aus. Aber auch hier wird es irgendwann ein Leben nach dem Tod des Ehepartners geben. In der Mitte der Gesellschaft und nicht am Rande.
Die Witwenverbrennungen sind auch hier schon so gut wie ausgerottet. Ganz vereinzelt, kommt es auf dem Land noch zu sogenannten Unfällen, bei denen sich die hinterbliebenen Frauen “aus Versehen” oder aus Trauer ins Feuer stürzen. Ich wünsche niemandem, ein solches Unglück und bin sicher, das der Wahnsinn in einigen Jahren ein Ende hat.
Jedoch müssen wir noch viel dafür tun und dürfen nicht aufhören zu kämpfen!